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Veranstaltungen

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Musiktherapie in einer Kindertagesstätte

Rainer Edelbrock

 

Einführung in den Arbeitsbereich

Frühkindliche Bildung hat in den letzten Jahrzehnten enorm an gesellschaftlicher und politischer Bedeutung gewonnen. Insbesondere der sogenannte „PISA-Schock“ im Jahr 2001, der den Zusammenhang von sozioökonomischem Status und Bildungsweg von Kindern in Deutschland verdeutlichte, führte zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für Kinder mit besonderen Bedarfen.

 

Aus dem daraus resultierenden Förderbedarf entstanden u.a. musiktherapeutische Angebote in Kindertagesstätten, die einerseits versuchen, den zunehmend heterogenen Entwicklungsvoraussetzungen der Kinder Rechnung zu tragen und andererseits spezifische Qualitäten der Musiktherapie fördernd für die Kinder einzusetzen (vgl. Edelbrock 2021, 43-56).

 

Das bis dato umfassendste musiktherapeutische Forschungs- und Angebotsprojekt für Kinder im Vorschulalter ist im Jahr 2007 an der WWU-Münster initiiert worden (Tüpker 2009 & 2020). Das Projekt Durch Musik zur Sprache richtet sich an Vorschulkinder mit und ohne Migrationshintergrund, deren Sprache nicht altersgemäß entwickelt ist. Den Kindern soll durch und in der Musiktherapie die Möglichkeit gegeben werden, Sprache überhaupt (oder wieder) als Form eines wünschenswerten Ausdrucks des Eigenen zu erfahren. Aus dem Projekt sind zwei Forschungsarbeiten hervorgegangen (Keller 2013, Edelbrock 2021), die zeigen konnten, dass ein Sprachdefizit keine isolierte Teilleistungsstörung darstellt, sondern ein Phänomen mit weiterreichenden Folgen ist, welche die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen.
 

Angebotsstrukturen

Musiktherapeutische Angebote in Kindertagesstätten weisen bis dato keine einheitliche Struktur auf. Das liegt einerseits an den oben aufgezeigten unterschiedlichen Settings und andererseits auch an den variierenden Zielorientierungen der Fördermaßnahmen (Resilienzförderung, Identitätsstärkung, ganzheitliche Sprachförderung etc.). An dieser Stelle soll daher exemplarisch die Angebotsstruktur und in Auszügen die Methodik aus dem Projekt Durch Musik zur Sprache vorgestellt werden, die sich auch im Weiterbildungsangebot an der WWU-Münster wiederfindet

Angebotsstruktur

  • die Kinder erhalten in Kleingruppen von maximal sechs Kindern ein Jahr lang einmal pro Woche eine musiktherapeutische Sprachförderung

  • eine Einheit dauert 45-60 Minunten

  • die Kinder werden in Zusammenarbeit mit dem Team der Einrichtung und in Absprache mit den Eltern für die Fördermaßnahme ausgewählt

  • die Maßnahme endet mit dem Schuleintritt der Kinder

Methodik des Angebots

  1. das einzelne Kind in seiner individuellen psychologischen Verfassung

  2. die Gruppe als Spielraum zur Entwicklung sozialer Kompetenzen

  3. die Zielsetzung einer Förderung der Sprachentwicklung durch Musik

 

Die Struktur der einzelnen Stunden wird vom Musiktherapierenden zwar vorbereitet, der tatsächliche Ablauf orientiert sich jedoch am impliziten Wissen der Kinder um eine für sie förderliche Entwicklungsrichtung. Der Spielraum ist also „weder leer noch eine bloße Spiegelung bisheriger Erfahrungen, sondern enthält, was gebraucht wird, und gibt genügend Halt und Ermutigung, ihn zu betreten und zu gestalten“ (Tüpker 2009).

 

Die Berücksichtigung der individuellen psychologischen Entwicklungsvoraussetzungen der Kinder bedeutet für die Methodik in diesem Zusammenhang „die Möglichkeit des Zurückgehens, des Aufholens und Nachholens von Erfahrungen: Regression im Dienste der Entwicklung“ (ebd., 25). Die Zielsetzung einer Förderung der Sprachentwicklung durch Musik richtet ihr Augenmerk dabei auf die Erfahrungen der Kinder in jenen Bereichen ihrer Selbst-Entwicklung, die zeitlich vor der des verbalen Selbst liegen (vgl. Stern 2007, 231-260).

Fallvignette

Im Folgenden wird ein Einzelfall aus dem Projekt Durch Musik zur Sprache in gekürzter Form dargestellt (vgl. Edelbrock 2021, S. 385-394).

 

Das hier beschriebene Mädchen Laureen war zu Beginn des Projekts fünf Jahre alt und seit drei Jahren im Kindergarten. Ihr Herkunftsland ist Senegal.

 

Des Weiteren wurde Laureen vom Team der Einrichtung wie folgt beschrieben: Sie sei sehr selbstbewusst, vorlaut und bestimmend. Im Spiel sei sie phantasievoll und zeige große Kreativität sowie Begeisterungsfähigkeit. Die Erzieherinnen hielten Laureen für überdurchschnittlich intelligent und gebildet. Sie habe eine starke Präsenz und sei ein intensives Kind, das viele Anforderungen an die Erzieherinnen stelle. Manchmal fahre sie sich in ihren Gefühlen fest und brauche dann viel Zuwendung.

 

Schon in der Teambesprechung bildete sich bei der Vorstellung von Laureen eine Spannung ab. Einerseits wurde sie als selbstbewusst und innerlich gefestigt beschrieben, andererseits als intensiv fordernd und zuwendungsbedürftig. Das mag daran liegen, dass das Team der Einrichtung eine im Hintergrund stehende innere Konfliktsituation bei Laureen erkannt zu haben schien, die das Kind in ihrer weiteren Entwicklung beeinträchtigen könnte.

 

In den Musiktherapiestunden tauchten zunächst die Fähigkeiten von Laureen auf. Sie schien über eine ihrem Alter angemessene Affektregulation zu verfügen und eher wenig von etwas bedroht zu sein. Das ermöglichte ihr eine wache und interessierte Teilnahme am Gruppengeschehen. Wahrscheinlich rückte sie daher in der Wahrnehmung des Therapeuten zunächst in den Hintergrund, auch weil die anderen Kinder von Beginn an ganz anders in Erscheinung traten. Die danach genauer beobachtende Beziehungsaufnahme durch den Therapeuten setzte aus dessen Sicht einen Prozess in Gang: Über die Identifikation mit dem Therapeuten und der damit verbundenen Dynamik, erschienen erste Brüche in Laureens bis dahin konsistentem Verhalten.

Im Protokoll zur ersten Stunde im Projekt hatte der Therapeut zu Laureen bezüglich einer Gegenübertragung vermerkt: „Von irgendetwas grundsätzlich enttäuscht.“ Dies war die einzige Notiz zu einer Gegenübertragung in der ersten Stunde im Projekt überhaupt. Hier deutet sich die Rätselhaftigkeit des Hintergrundgeschehens von Laureen an, das zwar von Beginn an wahrnehmbar war, aber vom Therapeuten nicht auf den ersten Blick verstanden werden konnte.

 

In den folgenden Stunden veränderte Laureen ihr Verhalten. Nahezu alle Handlungen von ihr wurden mit einem fröhlich-veralbernden Gestus versehen, der dem Therapeuten wie eine Maske erschien und in der Gegenübertragung oft aggressive Impulse hervorbrachte.

 

In Stunde 21 ereignete sich dann beim Ritual Aus dem Leben erzählen ein Gespräch mit allen Kindern darüber, wie es ist, mit der Familie in eine andere Wohnung, eine andere Stadt oder ein anderes Land umzuziehen. Als Laureen an der Reihe war, äußerte sie sich so: „Ich will in Afrika leben. Für immer. Hier ist doch alles blöd und langweilig.“

 

In den darauffolgenden Stunden verhandelte Laureen mit dem Therapeuten intensiv darüber, was sie gut und blöd finde. Hier wurde eine starke Ambivalenz sichtbar. Laureen wusste nicht mehr, welche Spiele sie nun ´gut´ oder ´blöd´ finden sollte. Das wirkte in den Augen des Therapeuten, als ringe Laureen permanent darum, Begebenheiten positiv empfinden zu dürfen. Manchmal endete jetzt eine Stunde damit, dass sie ausrief: „Das war echt hammermäßig krass!“ (Std. 22) und manchmal mit: „Das ist mir doch alles scheißegal hier!“ (Std. 23).

 

In Stunde 25 wünschte Laureen sich dann während des Rituals Aus dem Leben erzählen, Gott zu sein, um alles kaputtmachen zu können. Hier wird eine Größenphantasie (vgl. Kohut 2006) sichtbar, in der Zerstörungswut auftaucht. Diese Zerstörungswut hielt sich zunächst im Außen versteckt und entspricht damit der oben genannten Wahrnehmung einer Maske im äußerlich sichtbaren Verhalten von Laureen. In den folgenden Stunden brach sich Laureens Zerstörungswut immer mehr Bahn: Die vom Therapeuten gespielte Kasperhandpuppe wurde totgeschlagen, Instrumente durch den Raum geworfen u. a. m.

 

Der Schlüssel zum Verständnis für Laureens innere Konfliktsituation lag einerseits in ihren oben schon erwähnten Äußerungen zu einem Leben in Afrika bzw. dem Leben in Deutschland jetzt, andererseits in ihren Vorstellungen über ihre Zukunft in Deutschland. Bei der Singrunde Was wünschst du dir heute? äußerte Laureen oft den Wunsch, auf jeden Fall Ärztin werden zu wollen, machte dann eine kleine Pause und sagte: „Oder Richterin!“ Hier wird nach Ansicht des Verfassers ein Ambiguitätsdilemma sichtbar, das eventuell mit einem aufgeschobenen Trauern als Auswirkung von Migration, vor allem der Eltern, einhergeht (vgl. Kogan 2005, S. 291). Vermutlich betrauert Laureen indirekt den Heimatverlust ihrer Mutter („Hier ist doch alles doof und langweilig“) und versucht gleichzeitig, dem Wunsch nach einer gelungenen Integration im Aufnahmeland gerecht zu werden (Berufswahl). So können einander derart widersprechende Generationsaufträge nur zu einem Dilemma führen: Einerseits muss Laureen alles für sie Positive in ihrem Leben in Deutschland ablehnen, sich andererseits aber darum bemühen, eine hier angesehene berufliche Existenz zu erreichen, was ja nur durch eine gelingende Integration möglich ist.


Die oben erwähnten Spannungspole in der Beschreibung des Teams resultierten daher eventuell aus diesem Verhältnis von eigenem Erleben zu fremdem Auftrag.

 

Im Verlauf des Projektjahres konnte Laureen in den musiktherapeutischen Spielen und der darin stattfindenden Beziehung zum Therapeuten einen Spielraum für ihr Ambiguitätsdilemma etablieren. Auch wenn der ambivalente Generationenauftrag bestehen blieb wurde über das Zeigen-Können von Wut und Trauer allmählich eine Integration positiver Erlebnisse im Aufnahmeland in das Selbstbild für Laureen möglich.

 

Literatur

  • Finke, Kerstin (2015). Musiktherapie und Kindergarten. Können musiktherapeutische Ansätze für die pädagogische Arbeit im Kindergarten fruchtbar sein? Saarbrücken: AV Akademiker-Verlag.

  • Hammerbacher, C. & Schwaiblmair, F. (2017). Resilienzförderung im Kindergarten. In H. U. Schmidt u. T. Timmermann (Hrsg.), Förderung von Kindern und Jugendlichen durch musiktherapeutische Vorgehensweisen (13-29). Wiesbaden: Reichert.

  • Kogan, I. (2005). Nachwort. In P. Bründl u. H. Abeken (Hrsg.), Kindheit jenseits von Trauma und Fremdheit. Psychoanalytische Erkundung von Migrationsschicksalen im Kindes- und Jugendalter. Frankfurt a. Main: Brandes u. Apsel.

  • Kohut, H. (2006). Die Heilung des Selbst. Frankfurt a. Main: Suhrkamp.

  • Mäder, Y. (2018). Musiktherapie und Resilienz. Eine empirische Studie bei Erstjahr-Kindergartenkindern. In: A.-K. Jordan, E. Pfeifer, T. Stegemann u. S. Lutz Hochreutener (Hrsg.), Musiktherapie in pädagogischen Settings. Impulse aus Praxis, Theorie und Forschung (167-184). Münster: Waxmann.

  • Stern, D. (2007). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Mit einer neuen Einleitung des Autors (9. Aufl.). Stuttgart: Klett-Cotta.

  • Tüpker, R. (2009). Durch Musik zur Sprache. Handbuch. Norderstedt: BoD.

  • Tüpker, R. (2020). Durch Musik zur Sprache – Neue Spiele. Norderstedt: BoD.

  • Weyand, M. (2010). Musik - Integration - Entwicklung. Über die Bedeutung des Musikmachens in der präventiven musiktherapeutischen Arbeit mit sozial benachteiligten Migrantenkindern. Wiesbaden: Reichert.

 

Dissertationen:

  • Keller, Barbara (2013). Zur Sprache kommen. Konzeptualisierung und Evaluierung eines musiktherapeutischen Förderangebotes. Norderstedt: Books on Demand.

  • Edelbrock, Rainer (2021). Königskinder – Musiktherapie mit Kindern aus bedrohten Verhältnissen. Münster : readbox unipress in der readbox publishing GmbH: Universitäts- und Landesbibliothek Münster. Online verfügbar unter: https://miami.uni-muenster.de/Record/e376b84e-029c-4af2-8299-6253d0b8ca5b/HierarchyTree#details

 

Bachelor-, Master-, und Diplomarbeiten:

  • Krägelin, K. (2015). Die Gruppe im Chaos? Darstellung und Reflexion eines musiktherapeutischen Projekts mit Flüchtlingen. WWU Münster. Verfügbar unter https://www.uni-muenster.de/Musiktherapie/Literaturdienst/bestellservice.html

  • Paduch, I. (2002). Musik als Erfahrungs- und Gestaltungsraum. Bericht über ein Musikprojekt „Der Seelenvogel“ mit Kindergartenkindern. WWU Münster. Verfügbar unter https://www.uni-muenster.de/Musiktherapie/Literaturdienst/bestellservice.html

 

Verlinkung/Darstellung Best Case

 

Kontakt

 

Arbeitskreis "Musiktherapie in pädagogischen Settings"


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